Von Erwartetem und Realisiertem
November 2023 – Römische Geschichtsschreibung folgte nicht den Grundsätzen heutiger Historiker.
Es bestand nicht etwa das Bestreben, vergangene Ereignisse exakt aufzuarbeiten, um der Wahrheit oder unserem Verständnis davon möglichst nahe zu kommen. Akribische archivarische Arbeit scheuend beschrieben die römischen Historiker geschichtliche Entwicklungen so, wie sie nach ihrer Auffassung hätten sein können. Aushängeschild für diese Art der Geschichtsschreibung ist Sallust, der diesen Stil auf die Spitze trieb: Nicht nur pflegte er herzhaft den Berichterstattungsstil im Sinne von «so hätten sich die Ereignisse in etwa zutragen können», sondern legte seiner Schrift auch einen äusserst moralisierenden Ton zugrunde.
Auch in der Finanzpresse ist man vom subjektiven Zurechtbiegen von als Fakten dargelegten Einschätzungen nicht gefeit: Konfrontiert mit ungewissen künftigen Entwicklungen, suchen Finanzmarktteilnehmer und deren Kommentatoren gerne Zuflucht in der trügerischen Sicherheit historischer Daten. Im vorliegenden Anlegerbrief gehen wir derjenigen Missachtung finanzmathematischer Zusammenhänge auf den Grund, der fleissige Schreiber wie auch Fachkundige im Umgang mit historischen Daten am liebsten unterliegen: der Unterscheidung zwischen erwarteten und realisierten Renditen.
Mit der Frage konfrontiert, mit wie viel Ertrag denn ein Aktieninvestor rechnen könne, tendieren Berater dazu, die jährliche Durchschnittsrendite eines Aktienindex über einen gewissen Zeitraum heranzuziehen. „In den vergangenen zehn Jahren lag die Durchschnittsrendite in der Schweiz bei 5.7%.“ Obwohl diese Aussage an und für sich korrekt ist und sogar sachlich daherkommt, liegt der skizzierten Konversation ein Missverständnis zugrunde: Die Frage betrifft die erwartete Rendite, während die Antwort mit der realisierten Rendite argumentiert. Sich dieser oberflächlich betrachtet harmlosen Ungenauigkeit bewusst, schiebt der Berater gerne Sätze in vielfältiger Variation nach, wie „und wir gehen konservativ von etwas weniger aus“, oder „wir sehen aber eine noch höhere Rendite“, oder „und es gibt keinen Grund, warum das nicht über die nächsten Jahre realisiert werden könnte“. Der Anker ist geworfen, die Erwartungen sind gesetzt und der geneigte Kunde verlässt das Sitzungszimmer mit 6% plus-minus etwas mehr oder weniger im Kopf. Wir wollen nun der Frage nachgehen, ob die Daten dem Vorgehen des Beraters unter Umständen sogar recht geben und die historische Rendite tatsächlich der beste Indikator für künftige Renditen darstellt.

Abbildung 1: Annualisierte Zehn-Jahres Renditen für unterschiedliche Einstiegszeitpunkte für Schweizer Aktien.